Bibelvers der Woche 38/2019

Ich sah Knechte auf Rossen, und Fürsten zu Fuß gehen wie Knechte.
Pred 10,7

Hier ist ein Link zum Kontext in der Lutherbibel 2017.

Verkehrte Welt

Ich liebe Kohelet, wie schön, dass wir noch einmal einen Vers daraus ziehen. Beinahe ist es, als käme der Vers aus einem anderen Werk. Während der größte Teil des Buchs eine dichte Argumentation bietet, sind die Abschnitte 9 und 10 lockere Spruchsammlungen. Der vollständige Absatz lautet:

Wenn des Herrschers Zorn wider dich ergeht, so verlass deine Stätte nicht; denn Gelassenheit wendet großes Unheil ab. Dies ist ein Unglück, das ich sah unter der Sonne, gleich einem Versehen, das vom Gewaltigen ausgeht: Ein Tor sitzt in großer Würde, und Reiche müssen in Niedrigkeit sitzen. Ich sah Knechte auf Rossen und Fürsten zu Fuß gehen wie Knechte.

Kohelet spricht von einem „Unglück“ und einem „Versehen“. Normalerweise sind Fürsten die ersten Diener des Königs, nicht Sklaven. Es ist für die Stabilität des Staats und den Mächtigen selbst wichtig, die Starken im Land in ein unmittelbares Loyalitätsverhältnis zu bewegen. Erhält der Starke eine herausgehobene Stellung, so wird er in der Regel die Herrschaft stützen, weil er viel zu verlieren hat. Bleiben die Starken „außen vor“, so werden sie stattdessen die erste Gelegenheit nutzen, sich gegen den Herrscher zu verbünden. Unter diesen Gesichtspunkten wurden Lehen vergeben: die Adelspyramiden sowohl im ersten deutschen Reich wie auch im englischen Königreich spiegeln das Prinzip.

Warum sollte man anders verfahren? Kohelet sagt, es sei dies ein häufiger Fehler: systematisch bekommen immer wieder Menschen mit Sklavenmentalität Macht im Staat. Den Starken zum Fürsten zu machen, birgt auch Gefahren: der mächtige Fürst kann zum politischen Rivalen werden, wenn es ihm gelingt, sich mit anderen Fürsten zu verbünden. Ein schwacher Herrscher wird daher gefügigen Menschen ohne eigene Ambition zum Aufstieg zu verhelfen. Was Kohelet anspricht, ist also ein Symptom von Schwäche. 

Ist das alles? Wendet sich Kohelet an den königlichen Nachwuchs und das Topmanagement?

Nein. Sklaven und Toren an der Macht sind ein Bild. Für den Normalsterblichen wird ein handfester Rat daraus, Wir sollen mit unseren Stärken arbeiten und diese mächtig werden lassen und uns nicht von den Schwächen beherrschen lassen. Ist jemand phantasievoll und analytisch begabt, aber schwerfällig im Umgang mit anderen Menschen, sollte er kein Betätigungsfeld wählen, in dem es darauf ankommt, geschickt nach oben und nach unten zu taktieren und Versprechungen zu machen, Loyalitätsnetze zu spinnen und zu zerreißen. Versucht er sich im Dickicht einer Behörde, so muss er seine Kräfte darauf wenden, seine Schwächen zu kompensieren, und seine Stärken sind nicht gefragt. Und vielleicht wird dann aus der Kompensation gar seine zweite Natur.

Stattdessen könnte der Mensch unseres Beispiels als Berater arbeiten, als Wissenschaftler oder Künstler. Unsere Schwächen verdienen unsere Aufmerksamkeit, aber sie sind keine Kraftquelle. Unser Reich, unsere Existenz müssen wir so ordnen, dass die Starken in uns mächtig sind.

Der Wortlaut nimmt absichtlich eine allgemeine Tendenz der Bibel auf, Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen. Auch darin liegt eine Botschaft, Kohelet lässt ja keine Gelegenheit aus, uns zu sagen, dass die Dinge sich anders als geplant entwickeln können. 

Gott selbst verfährt nämlich genau nach dem Muster, das Kohelet als „Unglück“ und „Versehen“  bezeichnet. Er erwählt ein Sklavenvolk, reißt es aus der Abhängigkeit, führt es durch die Wüste in ein neues Land und hilft ihm, dies Land zu erobern. Mit Joseph und Daniel werden Sklaven zu Fürsten. David, der König Israels, ist als Ziegenhirt aufgewachsen und muss lange wie ein Räuber leben. Und der König der Welt kommt unter Hirten zur Welt und stirbt wie ein Verbrecher. In einem alten Kirchenlied heißt es:

Er entäußert sich all seiner G’walt,
wird niedrig und gering
und nimmt an eines Knechts Gestalt,
der Schöpfer aller Ding,
der Schöpfer aller Ding.

Er wird ein Knecht und ich ein Herr;
das mag ein Wechsel sein!
Wie könnt es doch sein freundlicher,
das herze Jesulein,
das herze Jesulein!

Das Motiv zieht sich durch die ganze Bibel. „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig,“ schreibt Paulus an die Korinther. „Der Bogen der Starken ist zerbrochen und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke“ heißt es bei Samuel. Hesekiel schreibt: „Und alle Bäume auf dem Felde sollen erkennen, dass ich der Herr bin: Ich erniedrige den hohen Baum und erhöhe den niedrigen; ich lasse den grünen Baum verdorren und den dürren Baum lasse ich grünen.“ Im Magnificat singt Maria: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“. In diesen Versen, wie auch in dem Vers von Kohelet, klingt das uralte Lied ihrer Namenspatronin Mirjam weiter: 

Lasst uns dem Herrn singen, denn er ist hoch erhaben, Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.
2. Mo 15,21

Kohelets Botschaft richtet sich an Menschen. Er gibt uns einen Rat der Art, für die man heute bei Coaches viel Geld bezahlt. Gottes Kraft aber ist unbegrenzt: Er muss ihren Einsatz nicht optimieren wie wir, er kann seine Kraft in den Schwachen mächtig werden lassen und damit zeigen, dass Er Herr ist.

Dies ist eine gesegnete Woche, wenn wir aus unseren Stärken leben und unsere Schwächen dem Herrn anvertrauen.
Ulf von Kalckreuth

3 Antworten auf „Bibelvers der Woche 38/2019“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert