Bibelvers der Woche 34/2021

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile.
Luk 12,13

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Wenn du nur an eines denken kannst…

If God had a name, what would it be?
And would you call it to his face, 
if you were faced with him?
In all his glory, what would you ask,
if you had just one question?

So beginnt ein Lied, das ich sehr mag, „One of us“ von Joan Osborne. Was wäre die Frage, die wir stellen würden? Sie beträfe sicherlich dasjenige, was uns am allerwichtigsten ist. In dieser kurzen Geschichte geschieht es. Jesus steht vor vielen Menschen und predigt. Ein Mann steht auf. Vor allen anderen bittet er Jesus, ihm gegen seinen Bruder zu helfen, mit dem er wegen des Erbes im Streit liegt (Luk 12, 13-15):

Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter über euch gesetzt? Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Es ist eine traurige Geschichte. Die Erbsache ist, was diesen Mann von Grund auf bewegt — die Sonne will nicht untergehen über der Bitternis, die diese Ungerechtigkeit in ihm nährt. Und jetzt steht der Messias vor ihm. Er kann diese Welt ändern — und tut es nicht! Macht ihm noch Vorwürfe, vor allen anderen. Ich kann mir vorstellen, mit welchem Gesicht der Mann zurück geht in sein ärmliches Haus. Aufgewachsen war er vielleicht in einem großen Haus, aber das enthält sein Bruder ihm nun vor. 

In meiner Bibel ist die Geschichte überschrieben mit „Warnung vor Habgier“. Das ist leicht gesagt. Wie soll der Mann denn da herausfinden? Gut möglich, dass er im Streit mit seinem Bruder gar „recht“ hat, das macht es noch schwieriger.

Denn die Dinge heilen nicht, sie werden nicht von selbst gut. Man muß sie verlassen, hinter sich lassen können. Sonst läuft man an seinem Messias vorbei. Du sollst nicht begehren… das ist eines der zehn Gebote. Aber ich fürchte, es ist einigermaßen sinnlos, sich diesbezüglich gute Vorsätze zu machen. Man kann es, oder man kann es nicht. Es ist eine Gnade. Es gibt viele Alpträume, aus denen man ohne diese Gnade nicht herausfindet. 

Hier ist ein Link zu „One of us“

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 33/2021

…darum habe ich auch mich selbst nicht würdig geachtet, dass ich zu dir käme; sondern sprich ein Wort, so wird mein Knecht gesund.
Luk 7,7

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Von ‚Abstandsregeln‘ und ihrer Überwindung

Der Hauptmann von Kapernaum, ein römischer Zenturio, bittet Jesus, seinen Knecht zu heilen, den er sehr liebt. Als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, bittet er ihn ausserdem, nicht näherzutreten, sondern die Heilung aus der Entfernung zu bewirken, nur durch sein Wort.

Die Geschichte wird in Matthäus 8 und in Lukas 7 erzählt. Der parallele Vers aus Matthäus ist eine wichtige Formel in der katholischen Abendmahlsliturgie. Bei Lukas tritt das Motiv des Abstands viel deutlicher hervor. Hier bittet der Hauptmann nicht selbst, sondern lässt jüdische Freunde, Älteste in der Gemeinde, ein Wort für ihn einlegen. Die haben guten Grund, der Bitte Folge zu leisten: der Hauptmann hatte den Bau der Synagoge in Kapernaum finanziert. Jesus selbst hat dort schon gepredigt. Und als Jesus in die Nähe des Hauses kommt, spricht wiederum nicht der Hauptmann selbst ihn an. Er schickt vielmehr Freunde, die Jesus bitten, die Heilung aus der Ferne zu bewirken. Diesen Inhalt trägt unser Vers.

Der Hauptmann ist Zenturio, Chef einer Garnison der verhassten römischen Besatzungsmacht. Ihm sind selbst Beschränkungen im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung auferlegt — wie in jeder Besatzungssituation gab es in der römischen Armee Fraternisierungsverbote. Aber das Problem ist wechselseitig: Juden durften nur sehr eingeschränkt Umgang mit Menschen haben, die nicht dem jüdischen Volk angehörten. Dabei galt der Umgang mit den römischen Besatzern in besonderer Weise als unmoralisch, schlimmer noch als der Kontakt mit Prostitutierten, Zöllnern und Dieben, die dem eigenen Volk angehörten.  

Für den Zenturio war dies zum Trauma geworden. Er „liebte“ die jüdische Gemeinde, schreibt Lukas. Der Zenturio war Proselyt, ein Mensch, der den Gott der Hebräer als seinen Gott anerkannte, ohne selbst Jude zu sein und ohne vollgültig der Gemeinde angehören zu können — und dies, obwohl er ihren Versammlungsort finanziert hatte. Er dürfte seine Erfahrungen mit religiösen Lehrern gemacht haben. Auch heute behandeln ultraorthodoxe Juden in Israel Andersgläubige gelegentlich mit ablehnender Indifferenz. Das kann verletzend sein, und diese Art Verletzung kann sich der Führer der Kommandantur am See Genezareth nicht leisten, auch aus politischen Gründen nicht. 

In seiner Verzweiflung versucht der Hauptmann die Quadratur des Kreises. Er bittet Jesus, an dessen Wirkmacht er glaubt, um Hilfe, und gleichzeitig um sicheren Abstand. Er selbst macht es vor: Älteste der jüdischen Gemeinde bitten für ihn, und dann Freunde. Jesus soll den Knecht aus der Entfernung heilen!

Sonst heilt Jesus mit körperlichem Kontakt. An dieser Stelle könnte die Handlung aus mehreren Gründen kippen. Der Hauptmann geht sehr weit, indem er Jesus sagt, wie dieser die erbetene Hilfe zu leisten hat. Ausserdem hat Jesus selbst sich um ‚Abstandsregeln‘ nie gekümmert und durch seinen unterschiedslosen Umgang mit Prostituierten, Zöllnern und anderen Sündern viel Anstoß erregt. Mit der Frage, warum denn der Zenturio es nicht ebenso halte, könnte er die Bitte mit einer klaren Botschaft abweisen. Stünde die Geschichte so im Evangelium, würde es nicht auffallen.

Aber frei wählt Jesus eine andere Interpretation. Er sieht die Not des Hauptmanns und erkennt, dass dieser das Unmögliche versucht. Jesus staunt, schreibt Lukas! Und er sagt laut: Ja, du hast recht, das Unmögliche ist möglich. Und genau darauf kommt es an. Dein erstaunlicher Glaube ist besser und tiefer als derjenige der rechtgläubigen Umstehenden. Und dann bewirkt er die Heilung, ganz genau so, wie der Hauptmann sie sich wünscht. 

Später, lange nach Jesu Tod, verbreitete seine Lehre sich besonders schnell und leicht unter den Proselyten der griechisch-römischen Welt. In gewisser Weise war der Hauptmann von Kapernaum der erste von vielen. Unten sind zwei Bilder, von den Resten des Fischerdorfs Kapernaum und vom See Genezareth. Es war Anfang April 2017. Bei diesem Licht fällt es leichter als anderswo, das Unmögliche für möglich zu halten! 

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Woche, 
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 32/2021

Wenn uns der HErr Zebaoth nicht ein weniges ließe übrigbleiben, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.
Jes 1,9

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Das Pendel

Wir sind im ersten Kapitel des Jesajabuchs. Den Text bis Kapitel 6, wo Jesajas Berufung erzählt wird, kann man als Ouvertüre lesen, in der die wesentlichen Themen des Buchs vorgestellt werden. Auch diese Ouvertüre aber hat Ort und Zeit. In den Versen 7-9 kennzeichnet der Prophet die Situation seines Sprechens:  

Euer Land ist verwüstet, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen; alles ist verwüstet wie durch Fremde verheert. Übrig geblieben ist allein die Tochter Zion wie ein Häuslein im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt. Hätte uns der HERR Zebaoth nicht einen geringen Rest übrig gelassen, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.

Was wird da beschrieben? Der Prophet ist in Jerusalem. Die Stadt ist eingeschlossen, das Umland ist von fremden Heeren besetzt, die anderen Städte des Reichs sind gefallen. Diese Situation gab es im Jahr 702 v. Chr., als der historische Jesaja schon alt war. Der Assyrer Sanherib führte einen Vernichtungskrieg gegen das unbotmäßige Juda. Dessen König Hiskia wollte sich aus der Oberhoheit des assyrischen Reichs befreien und hatte die Zahlung von Abgaben eingestellt. Nun heerte die gewaltige Armee des assyrischen Reichs über das Land, und es ging ums nackte Überleben.  

Es fehlt nur ein weniges, dann wären wir wie Sodom und Gomorrha: ganz vernichtet und ohne Rettung. Aber dies wenige macht den ganzen Unterschied. Beinahe rhythmisch wechselt Jesajas Buch hin und her zwischen Sünde und Katastrophe einerseits und Wiederherstellung und Verheissung des Heils andererseits. Das ist nicht zeitlich gemeint, Jesaja wechselt die Perspektiven. Aber käme es je zur gänzlichen Vernichtung, so bliebe dies Pendel stehen. Das ist eine sonderbare Vorstellung, wie der eigene Tod. In unserer Welt wird dies nicht geschehen, es wäre dann schon eine andere. 

Das wenige, was übrig bleibt, ist der Boden für Neubeginn, neue Orientierung und neues Wachstum. Die Ältesten unter uns haben das nach dem Krieg erlebt. Seither ist unser Land von großen Katastrophen verschont geblieben. Und die Struktur, die sich in den Jahren vor das Elend geschoben hat, ist eindrucksvoll, wenn auch an manchen Stellen brüchig…

Eine Freundin von mir ist Minimalistin. Sie versucht konsequent, sich und ihre Habe auf das nötigste zu beschränken. Das hat eine eigene Schönheit, die sofort vor Augen tritt, wenn man sich das Gegenteil vorstellt. Die Kraft des Minimalismus liegt in dem Raum und der Zeit, die mit Träumen oder neuen Realitäten gefüllt werden können. Unser Leben aber hat solche kargen Phasen auch, wo wir es nicht wollen: Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod des Partners, seelische Verwirrung. Quarantäne. Oder auch eine intensive Prüfungsphase. Wir erleben sie als Krisen, aber sie sind auch Räume für den nächsten Pendelschlag. 

Wie ging der Krieg aus? Die Historiker sprechen von einer schrecklichen Niederlage Hiskias, von der sich das Land nur schwer erholte, die Bibel hingegen in 2. Kö 19 von einem wunderbaren Sieg: Über Nacht starben 185.000 feindliche Soldaten, und die Belagerung Jerusalems musste abgebrochen werden. 

Vielleicht ist beides auf seine Weise richtig. Realität entsteht evolutorisch. Der nächste Schritt erfolgt stets auf Basis dessen, was übrig geblieben ist, und große Veränderungen brauchen Raum.

Beim Schreiben hatte ich zwei Menschen besonders vor Augen. Uns allen aber wünsche ich eine gesegnete Woche auf dem kosmischen Pendel, ob es nun gerade nach links schwingt oder nach rechts,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 31/2021

Und Esra, der Schriftgelehrte, stand auf einem hölzernen, hohen Stuhl, den sie gemacht hatten, zu predigen, und standen neben ihm Matthithja, Sema, Anaja, Uria, Hilkia und Maaseja, zu seiner Rechten, aber zu seiner Linken Pedaja, Misael, Malchia, Hasum, Hasbaddana, Sacharja und Mesullam.
Neh 8,4

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Re-Formation

Ein langer Vers, mit vierzehn Namen. Aber dennoch ist er spannend: hier erzählt uns die Bibel, wie in der Bibel gelesen wird.

Die Zeit des erzwungenen Exils war zu Ende. Juden durften aus Babylon in ihr Heimatland zurückkehren und Jerusalem konnte neu aufgebaut werden. Nachdem es wieder einen Tempel gab, kam Esra aus Babylon, um den Tempeldienst neu einzurichten. Zu den dürftigen ersten Anfängen und der Bedeutung des großen Reformators für das Judentum siehe die beiden BdW 30/2020 und 32/2020

Esra stand vor einer gewaltigen Aufgabe. Die Kontinuität der Religionsausübung war gebrochen und neue Formen waren entstanden, etwa der Gottesdienst in Synagogen. Die überlieferten Schriften wurden während und nach dem Exil redigiert, neu kompiliert und ergänzt. Das Neue und das Alte mußten zu einem Ganzen integriert werden. Der entstehenden Gemeinschaft fehlte eine Identität. 

Der religiöse Führer entschließt sich zu einem Schritt von großer symbolischer Kraft. Im neuen Tempel — einer Baustelle eigentlich — stellt er sich auf und liest laut, an alle gerichtet, das Gesetz. Er wiederholt damit eine Handlung Josias, des großen Reformkönigs vor dem Exil. Damals, in einer Zeit religiöser Ambivalenz und Gleichgültigkeit, war bei Reparaturarbeiten am Tempel das „Buch des Gesetzes“ gefunden worden. Josia ließ es verlesen und leitete damit eine Reinigungsbewegung ein, siehe den BdW 20/2021

Esra liest das Gesetz laut. Damit sagt er gleichzeitig, wie das Wort Gottes gelesen werden soll: wörtlich nämlich, nicht in termini von Abstraktionen und Interpretationen. Esra ist „Reformator“ im ältesten Sinn des Wortes. Er stellt in seiner Gegenwart eine idealisierte, in die Vergangenheit projizierte Struktur wieder her. Dabei tritt er nicht als Person auf, sondern als Repräsentant einer neuen geistlichen Elite. Sechs spirituelle Würdenträger stehen rechts von ihm und sieben links. Viele Stunden lang stehen sie und lesen laut das Gesetz Gottes. So wie Juden überall in der Welt es in der Synagoge heute noch tun. 

Was für ein Bild!

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Faksimile einer Megillat Esther. Bild: Ulf von Kalckreuth, Juli 2021
Faksimile einer Megillat Esther. Bild: Ulf von Kalckreuth, Juli 2021

Bibelvers der Woche 30/2021

…und der Eifergeist entzündet ihn, dass er um sein Weib eifert, sie sei unrein oder nicht unrein,…
Num 5,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottesurteil

Wieder ein Vers, über den vielleicht noch nie eine Predigt geschrieben wurde. Es geht um ein Gottesurteil, das die Schuld oder Unschuld von Frauen klären soll, die des Ehebruchs verdächtigt wurden. Es ist dies ein schwerer Verdacht: auf Ehebruch stand nichts weniger als die Todesstrafe, und zwar sowohl bei der verheirateten Frau als auch beim Mann, der in die Ehe einbricht, siehe Deut 22,22 und Lev 20,10. Das Gesetz ist asymmetrisch. Einem Mann sind außereheliche Beziehungen grundsätzlich erlaubt, sein Seitensprung bleibt folgenlos, wenn er dabei nicht die Ehe eines anderen Mannes bricht.

Andererseits aber sieht das ältere Judentum vor, dass Urteile wegen schwerer Vergehen nur aufgrund von Zeugenaussagen erfolgen können. Nach Deut 19,15 sind für ein Urteil mindestens zwei Zeugenaussagen nötig. Nun findet Ehebruch kaum je in der Öffentlichkeit statt, so dass die Norm in Gefahr steht, leer zu laufen. Selbst wenn eine Frau mit dem Kind eines anderen schwanger war, fehlte es ja an Zeugen. 

An dieser Stelle greift das in Num 5 beschriebene Verfahren ein. Ein Mann hat das Recht, seine Frau zum Priester zu bringen und ihre Treue durch ein Gottesurteil klären zu lassen. Er bringt ein Opfer mit, legt es ihr in die Hand, so dass sie selbst zur Opfernden wird, und der Priester lässt sie Wasser trinken, das mit Staub aus der Umgebung des Allerheiligsten verunreinigt ist. Das Wasser wird verflucht. Der Priester spricht — und sie bestätigt durch doppeltes Amen — dass dies Wasser sie unfruchtbar mache und schwer entstellen werde, wenn sie die Ehe gebrochen hat, dass es aber harmlos bleibe, wenn dies nicht der Fall ist. Hier ist ein Link zu einer eingehenden Beschreibung des Verfahrens.

Der Text nennt explizit zwei Anlässe für das Verfahren: die Schuld der Frau ist mehr oder weniger offensichtlich, oder aber der Mann ist nachhaltig „vom Geist der Eifersucht“ entzündet, ob zu Recht oder zu Unrecht. Diese Möglichkeit greift der gezogene Vers auf. In beiden Fällen kann die Ehe nicht ohne weiteres fortgeführt werden, und das Gottesurteil wird nötig.

Das Verfahren wird detailliert auch im Talmud beschrieben, in einem eigenen Abschnitt. Man kann davon ausgehen, dass es tatsächlich zur Anwendung kam. Gibt es hier irgendwo eine frohe Botschaft? Der Ritus bietet immerhin die Möglichkeit, den Schuldvorwurf aus der Welt zu schaffen. Und es ist kein Gottesurteil der Art, bei dem jemand mit einem Mühlstein um den Hals in den See geworfen wird, damit Gott ihn errette, wenn er unschuldig ist. Der Staub dürfte unappetitlich, aber nicht gesundheitsschädlich gewesen sein. Implizit beinhaltet das Verfahren eine starke Tendenz zugunsten der beschuldigten Frau. 

Aber manche Problemlösungen sind keine. Stellen wir uns die Szene vor: ein Mann geht mit seiner Frau den weiten, staubigen Weg zum Tempel in Jerusalem. Sie ist möglicherweise schwanger. Er stellt sie dem Priester vor und die drei vollziehen den Ritus. Wenn die Frau das „bittere, verfluchten Wasser“ trinkt und nicht daran stirbt, so könnte die Ehe fortgeführt werden. So ist es wohl gemeint. Aber was wird, was kann von dieser Ehe dann noch übrig sein? 

Vertrauen wäre besser — Vertrauen der Art, die sogar das Wissen überlagern kann. Aber solches Vertrauen ist nicht jedermanns Sache. Wie der Glauben auch.

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 29/2021

…welchen er uns bereitet hat zum neuen und lebendigen Wege durch den Vorhang, das ist durch sein Fleisch,…
Heb 10,20

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Durch den Vorhang

Ein Vers voll konzentrierter Theologie, Teil eines gedrängten Satzes, der seinerseits die voranstehende Abhandlung zusammenfasst. Hier ist der ganze Satz, Heb 10, 19-22 in der Lutherbibel 2017:

Weil wir denn nun, Brüder und Schwestern, durch das Blut Jesu den Freimut haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns eröffnet hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch sein Fleisch, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in der Fülle des Glaubens, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.

Ich kann versuchen, das mit meinen Worten wiederzugeben. Es geht um den Zugang zu Gottes Gegenwart. Verse dazu hatten wir in den vergangenen Wochen 24, 25 und 26 bereits. Das Allerheiligste war die „Wohnung Gottes“ im Stiftszelt auf der Wüstenwanderung und später im Tempel. Niemand erträgt die volle Gegenwart Gottes, ohne zu sterben, siehe BdW 24/2021. Gott wohnt daher in der Dunkelheit. Zum Allerheiligsten hatte nur der Hohepriester Zutritt, einmal im Jahr. Allen anderen war der Raum verwehrt. 

Christus hat der Beziehung zwischen Mensch und Gott auf eine neue Grundlage gestellt. Deshalb sprechen Christen vom „neuen“ Testament. Christus steht für den Zugang zu Gott, er ist dieser Zugang, sagt der Verfasser des Hebräerbriefs. Christus ist Hohepriester ganz eigener Art. Sein Opfer und sein Tod sind die Verbindung zwischen unserer Welt und Gottes Gegenwart, wie ein Weg durch den Vorhang, der im Tempel das Allerheiligste und die Welt zugleich verband und trennte. Mt 27 und Mk 15 beschreiben, wie dieser Vorhang bei Jesu Tod zerriss. 

Der Hebräerbrief sucht die Wahrheit Christi in Bilder und Formeln des traditionellen Judentums zu fassen. Die Adressaten waren jüdische Christen. Der Brief ist eine Art Übersetzung. Eigentlich ist das Eulen nach Athen tragen: Jesus war Jude und hat sein Leben unter frommen Juden verbracht. Seine Sprache war einfach, er selbst hätte sicherlich nicht so formulieren wollen. Aber die Antworten auf die Fragen — wer ist denn der Christus? König, Priester, Prophet, Messias, Mensch, Gott, beides? — begannen früh schon so komplexe Gestalt anzunehmen, dass sie übersetzt werden mussten.

Der Brief wurde später in den biblischen Kanon aufgenommen, in den Kernbestand der Zeugnisse christlichen Glaubens. Ob er sein erstes Ziel erreicht hat? Wie wurde er wohl aufgenommen? 

Bei mir bleibt dies Bild: Christus, der bei Gott lebt und den Menschen zugleich, ist unser Weg zur Gegenwart Gottes. Sein Tod macht den Weg durch den Vorhang frei, der die Welten trennt.

Gehen müssen wir den Weg selber. Unvorstellbar eigentlich. Schwindelerregend. Wer wagt es? 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 28/2021

Dies ist das Geschlecht des Perez: Perez zeugte Hezron;
Ruth 4,18

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Mikroschicksal und Makrokosmos

Im Februar 1945 floh meine Großmutter mit ihren drei Kindern vor den Russen aus Niederschlesien und zog über Monate im Treck durch ein zerstörtes und eisig kaltes Deutschland, bis sie mit den Kindern in Laupheim ankam, einer kleinen Stadt in Südwestdeutschland. Dort lebten jüdische Verwandte, verschwägert über die Schwester ihres Mannes, meines Großvaters. Über dessen Schicksal wusste sie zu diesem Zeitpunkt nichts. Sie befand sich in einer Lage, die der von Naomi und Rut sehr glich.

Das Buch Ruth spielt in der mythischen, vorstaatlichen Zeit Israels. Rut ist Vorfahrin Davids. Sie ist keine Israelitin, sie gehört dem verachteten Volk der Moabiter südöstlich der Kernlande Israels an — im ‚Bibelvers‘ der letzten Woche waren wir ihnen begegnet. Das Buch erzählt, erdig und herb, ein Flüchtlingsschicksal zweier Frauen. Elimelech, ein Mann aus Bethlehem, flieht vor einer Dürre in das Nachbarland Moab. Die Wanderung mißlingt: er und seine beiden Söhne sterben. Seine Frau Naomi zieht gemeinsam mit Rut, einer der beiden moabitischen Schwiegertöchter, zurück ins israelitische Heimatland. Sie hofft, dort Nahrung und Hilfe zu finden. Ruth begleitet Naomi, obwohl sie Moabiterin ist und sie zu ihrer eigenen Familie zurückkehren könnte. 

In Bethlehem sind die beiden gänzlich auf das Wohlwollen ihrer Umgebung angewiesen. Es gibt eine unklare Pflicht der nächsten Verwandten Elimelechs, als ‚Löser‘ zu fungieren, sonst haben sie keine Ansprüche. Es ist Erntezeit, sie haben Hunger, und Rut beginnt, das Korn aufzulesen, das bei der Ernte liegengeblieben war — das Recht der ganz Armen, siehe BdW 48/2019. So lernt die junge Frau den reichen Bauern Boas kennen und gerät in völlige Abhängigkeit von ihm. Sie schlafen miteinander. Einen langen Moment bleibt die Geschichte in der Schwebe und scheint in sexuelle Ausbeutung münden zu wollen. Aber Boas entscheidet sich, die Rolle des ‚Lösers‘ anzunehmen und füllt sie aus, indem er Rut heiratet. Das Kind der beiden wird Großvater Davids. Der gezogene Vers berichtet die Ahnreihe Davids als makrokosmischer Nachtrag zur mikrokosmischen Geschichte Ruths. Der Nachtrag bindet die Geschichte der beiden Flüchtlingsfrauen an die große Welt der biblischen Erzählung an. 

In der Torah und den Geschichtsbüchern des Alten Testaments durchdringen sich Makrokosmos und Mikrokosmos auf eigentümliche Weise: es werden Einzelschicksale berichtet, diese aber haben zugleich Bedeutung für große Gruppen in der Zukunft. Die Personen sind Teil einer Ahnreihe, oder sind gar Stammväter oder -mütter ganzer Völkerschaften. Was sie tun, hat Bedeutung für alle diese Nachkommen, auch Könige oder Völker.

Unsere jüdischen Verwandten in Laupheim hatten den Naziterror wie durch ein Wunder überlebt, und es ging ihnen den Umständen entsprechend sehr gut. Als meine Großmutter mit den Kindern  bettelarm in Laupheim ankam, nahmen sie die kleine Familie herzlich auf und ermöglichten ihr einen neuen Start. Unbewusst mag dabei neben vielem anderen auch die Erinnerung an das Buch Rut mitgeschwungen haben. Und auch hier: was geschah, hat Folgen bis heute. 

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 27/2021

Auch schlug er die Moabiter, dass die Moabiter David untertänig wurden und Geschenke brachten.
1 Ch 18,2

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Von Siegen erzählen

Der Text berichtet von den Eroberungszügen, mit denen David sein neu erworbenes Großkönigtum festigt und erweitert. Unser Vers geht auf das Schicksal der Moabiter ein — mit militärischer Gewalt werden sie in einen Vasallenstatus gebracht und tributpflichtig gemacht. Andernorts, bei Samuel, wird genauer erzählt, und grausamer: 

Er schlug auch die Moabiter und ließ sie sich auf den Boden legen, und maß sie mit der Messschnur ab, und er maß zwei Schnurlängen ab, so viele tötete er, und eine volle Schnurlänge, so viele ließ er am Leben. So wurden die Moabiter David untertan, dass sie ihm Tribut bringen mussten. (2 Sam 8,2)

Bei Samuel steht die Geschichte im Kontext eines wiederkehrenden Wechsels von Maßlosigkeit und Buße — wie in einem Computerspiel lernt David in der Auseinandersetzung mit Gott und der Umwelt seine Möglichkeiten und Grenzen kennen. 

In der Chronik ist der Bezugsrahmen ein ganz anderer. Der Autor interessiert sich ausschließlich für den Jerusalemer Tempel, der noch gar nicht gebaut ist. Vorher wird berichtet, wie David Gott einen Tempel bauen will und jener das Ansinnen ablehnt: erst Davids Sohn Salomon sei dazu bestimmt. Dennoch tut David alles, das große Werk vorzubereiten: er führt viele Kriege, darunter auch den gegen Moab, und füllt mit den Siegen die Staatskasse (Kap 18-20). Nach einer großen, selbstverschuldeten Katastrophe, die beinahe sein Untergang gewesen wäre, findet David den Platz, an dem der Tempel gebaut werden soll (Kap 21) und läßt Steine behauen und Zedernholz heranbringen für den großen Bau. Wenn Salomo der Vater des Tempels ist, dann ist David sein Großvater, kann man der Schilderung entnehmen. 

Manche machen die Bibel für den Inhalt des Berichteten verantwortlich, für eisenzeitliche Eroberungszüge und Massaker. Das ist nicht sinnvoll. Im vorliegenden Text der Chronik ist für mich allerdings die Erzählhaltung schwer erträglich. Das Schicksal der Moabiter und vieler anderer kleinerer und größerer Nachbarvölker wird unter rein fiskalischen Gesichtspunkten gesehen, das eigentliche Geschehen ist der Tempelbau. Das Buch Genesis sieht die Moabiter als Abkömmlinge von Abrahams Neffen Lot, gezeugt durch einen widerlichen Samenraub der Töchter an ihrem betrunkenen Vater. Das bringt die enge Verwandtschaft der Völker zum Ausdruck und ist gleichzeitig morgenländischer Ausdruck allerhöchster Verachtung. Die Verachtung zieht sich durch das ganze Alte Testament, eine Ausnahme ist die Erzählung von Rut, einer Moabiterin, die Urgroßmutter Davids wurde. 

Dabei ist die Bibel ungeheuer ehrlich, all das gibt es ja wirklich. Man kann Erzählungen und Erzählhaltungen ertragen, wie man Menschen ertragen kann. Denn es gibt andere Perspektiven, auf die wir auf der Reise durch die Bibel schon gestoßen sind. Von Jeremia und Jesaja sind „Fremdvölkersprüche“ — Untergangsprophezeihungen — gegen Moab überliefert. Die Moabiter werden das Schicksal Israels und Judas teilen, sagen die Propheten, und sie sagen dies mit größter Trauer, siehe die BdW 4/2018 und 44/2018. Die beiden Seher sind zerrissen: der Herr setzt Vernichtung ins Werk — wie können wir damit umgehen? Jesaja fragt an dieser Stelle noch weiter: wie kann Gott damit umgehen?  

Wie bei einem Menschen müssen wir uns bei der Bibel — und auch bei Gott — manchmal an das erinnern, was wir schon gesehen haben…

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Bibelvers der Woche 26/2021

Und die vier Tiere sprachen: Amen! Und die vierundzwanzig Ältesten fielen nieder und beteten an den, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Off 5,14

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottes Gegenwart — jenseits der Zeit

Ein Vers zur Sonnenwende, und es wirkt, als führten die Verse der vergangenen Wochen auf diesen hin. Erst die Offenbarung am Sinai und Mose Erfahrung mit Gottes Gegenwart, dann ein Psalmvers, der die machtvolle Gegenwart Gottes bekennt — nun sehen wir mit Johannes, wie am Ende der Zeit vor Gottes Thron das Buch mit den sieben Siegeln eröffnet wird. Die Zeitenwende ist als Erzählung in einer Schriftrolle fixiert: das Ende der Welt, wie wir sie kennen, und die Heraufkunft einer neuen. Das Schicksal der Welt vollzieht sich, indem die Rolle geöffnet und verlesen wird. Die Buchstaben dieser Schrift erzeugen Wirklichkeit, sind Wirklichkeit, Das Buch wird Christus übergeben, der es öffnen wird, Siegel für Siegel. Nach der Öffnung des siebenten Siegels werden sieben Posaunen ertönen, danach sieben Schalen des Zorns vergossen. 

Das Auditorium sind, neben Gott selbst, vierundzwanzig „Älteste“, und vier Lebewesen („Tiere“ in der alten Übersetzung), die in unmittelbarer Nähe Gottes stehen. Bevor das erste Siegel erbrochen wird, kommt die Rahmenhandlung zu einem Stillstand. Für einen Moment schwebt alles. Die Szene vor Gottes Thron  erweitert sich in einen Lobpreis der Schöpfung, an dessen Ende der gezogene Vers steht (Off 5, 13+14 i.d. Lutherbibel 2017):

Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer, und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und die vier Wesen sprachen: Amen! und die Ältesten fielen nieder und beteten an. 

In Bibelkommentaren und im Internet liest man unterschiedliche Meinungen darüber, wer oder was die vierundzwanzig Ältesten und die vier Lebewesen dieser Thronszene sind. Bei den vieren gibt es einen deutlichen Bezug auf die Thronszene in Hes 1. Die Wesen dort werden später, in Hes 10, als Cherubim identifiziert. In Jes 6, einer anderen Thronszene, werden sie Serafim genannt. Hier sind sie „Lebewesen“ (zoon), sie können für natürliche und übernatürliche Kräfte in der Schöpfung stehen. Die Ältesten werden in einem Kommentar meiner katholischen Übersetzung als Engel bezeichnet, für meine kommentierten Lutherausgabe sind es Repräsentanten der geretteten Menschheit, die Väter der zwölf Stämme Israels und die zwölf Apostel.

Ich denke, man sollte hier und anderswo die Offenbarung nicht als Allegorie zu lesen, wo allem eine und genau eine Bedeutung zukommt, als wäre der Schrift ein unsichtbares Lexikon beigelegt. Ich lese sie poetisch: sie trägt ihre eigene Wirklichkeit in sich und schafft einen eigenen Bedeutungsraum. Verzichtet man auf das unsichtbare Lexikon, kann man die Offenbarung aufnehmen, wie sie ist, die machtvollen Bilder auf sich wirken lassen und sehen, was sie zeigen. Den exakten Tag des Weltuntergangs kann man so freilich nicht mehr bestimmen…

Lese ich also poetisch, stehen für mich die vierundzwanzig Ältesten und vier Lebewesen für die ganze Gott zugewandte und auf ihn bezogene Schöpfung. Diese Zugewandtheit besteht, obwohl doch das zu öffnende Buch den gottesfernen Teil dieser Schöpfung untergehen lässt. Es mag also hier um einen Wesenskern oder eine Bestimmung gehen, um eine überzeitliche Perspektive: die Eröffnung des Buchs vom Ende der Zeit spielt sich ja selbst nicht in der Zeit ab. Vor und hinter aller Zeit sind Gott und Schöpfung eine Einheit. Und am Anfang vom Ende aller Zeit steht der Lobpreis:

Und die vier Tiere sprachen: Amen! Und die vierundzwanzig Ältesten fielen nieder und beteten an den, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth

Anm.: Die nähere Bestimmung „den, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit“ im Bibelvers der Woche nach Luther 1912 findet sich nur in einem Teil der griechischen Quelltexte, die moderne Lutherbibel (siehe das Zitat oben) und die Einheitsübersetzung beziehen sich auf einen Text, der diesen Zusatz nicht enthält.

Bibelvers der Woche 25/2021

Die Himmel verkündigen seine Gerechtigkeit, und alle Völker sehen seine Ehre.
Ps 97,6 

Hier ist ein Link für den Kontext des Verses, zur Lutherbibel 2017.

Gottes Gegenwart — öffentlich!

Ein König bündelt die Kräfte seines Volkes und schafft dadurch Macht. Unkoordiniert ist auch ein großes Volk machtlos. Es gehört zu den Grundaufgaben eines Königs, seine Macht — die Macht seines Volks — zu zeigen. Auch ein persönlich bescheidener Monarch ohne Profilneurose wird dies tun. Die Botschaft richtet sich nach aussen und nach innen: andere Machthaber sollen sehen, dass ein Übergriff nicht folgenlos bliebe, dem eigenen Volk und seinen Teilen wird gezeigt, dass es ‚drinnen‘ sicherer als ‚draussen‘, dass der Schritt nach ‚draussen‘ keine gute Idee wäre. 

Die Israeliten hatten einen König, bevor sie anfingen, sich einen König suchten — Gott den Herrn. Er galt ihnen als Heerführer und Quelle von Kraft und Macht. Der Gott, der es liebt, im Dunklen zu leben, wie es Salomo sagt, der unsichtbare Gott, dem man kein Bild machen darf, zeigt sich nicht direkt. Der Psalm, aus dem wir gezogen haben, stellt daher die Präsenz, die Demonstration der Macht, im Gebet her. Die Verse 1-6 lauten in der Übersetzung von 2017: 

Der HErr ist König, des freue sich das Erdreich, 
und seien fröhlich die Inseln, so viele ihrer sind. 
Wolken und Dunkel sind um ihn her,
Gerechtigkeit und Recht sind seines Thrones Stütze.
Feuer geht vor ihm her und verzehrt ringsum seine Feinde.
Seine Blitze erleuchten den Erdkreis. Das Erdreich sieht es und erschrickt. 
Berge zerschmelzen wie Wachs vor dem Herrn, vor dem Herrscher der ganzen Erde. 
Die Himmel verkündigen seine Gerechtigkeit, und alle Völker sehen seine Herrlichkeit.

Je öfter ich die Zeilen lese, um so eigenartiger und aufschlußreicher werden sie mir. Der Psalm ist sehr alt, er kommt aus einer Zeit, in der die Existenz anderer Götter keineswegs geleugnet wurde (siehe die Verse 7b und 9), nur ihre Anbetung war verboten. Die Demonstration der Macht in den Versen erleben wir als archaisch. So ähnlich lässt Putin seine Atomraketen durch Moskau fahren. Wir haben heute ein anderes, differenziertes Gottesbild, nicht wahr? Gottes Gegenwart ist für uns eine höchst private Angelegenheit, keine öffentliche. Unser Gott mischt sich nicht ein, oder höchstens, wenn wir es wollen, auf unser Bitten hin, ansonsten lässt er uns in Ruhe, überlässt uns seine Schöpfung zum Gebrauch… Wir zahlen für unsere Kirche wie für eine Versicherung, im Schadensfall haben wir einen direkten Draht, aber wir erwarten nicht, dass der Versicherer uns anruft mitten in der Nacht. 

Hier ist Gott! Berge zerschmelzen wie Wachs. Die Himmel verkündigen seine Gerechtigkeit und alle Völker sehen seine Ehre. Sichtbar für jedermann, auch für Menschen fern von Gott, entfaltet sich seine Macht als massive Tatsache, unumstößlich ist sie mit feurigen Buchstaben in den Himmel geschrieben. 

Würden Sie Gott gern so sehen? Am Ende der kommenden Woche zum Beispiel? Was mich betrifft, ich bin mir nicht sicher. Was würde aus der Arbeit, der Ehe, dem Haus, den Kindern, wenn Gottes Gegenwart sich plötzlich so zwischen uns und die Welt schöbe? Das Gleichnis vom reichen Jüngling fällt mir ein. Sind es am Ende wir selbst, die es lieben, Gott im Dunklen zu wissen? Aber wäre es nicht ungeheuer wohltuend, die Wahrheit zu sehen, licht wie der Tag? Es hängt vom eigenen Standpunkt ab, für den Psalmisten ist die Antwort klar. Der Vers erinnert an die Offenbarung am Sinai, aber gleichzeitig ist er Wunsch und Erwartung.

Der „Bibelvers der Woche“ ist am 16. Juni vier Jahre alt geworden. Der erste Vers, für die Woche 24/2017, war  von Jeremia. Wir können sehen, wie sehr der Prophet in Zeiten großer Not darunter leidet, dass Gott nicht sichtbar eingreift:  

Warum stellst du dich wie ein Held, der verzagt ist, und wie ein Riese, der nicht helfen kann? Du bist ja doch unter uns, HErr, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!
Jer 14,9

Jeremia bleibt dem Herrn treu und baut auf seine Hilfe, obwohl sie nicht sichtbar wird. Das ist ungeheuer erwachsen und liegt gleichzeitig hart am Rand der Realitätsverweigerung. Das trägt bis heute, als Modell für Glauben. Zweifellos aber wäre Jeremia überfroh gewesen, den Herrn aus seinem Dunkel hervortreten zu sehen, obwohl er selbst sehr gut wusste, dass dies eine schreckliche Erfahrung sein kann. Die Ambivalenz dieser Erfahrung war uns in der vergangenen Woche bereits begegnet. Vielleicht bekommen wir am Ende das, was wir wollen. Noch einmal: wie fühlt sich das für Sie an?

Die Himmel verkündigen seine Gerechtigkeit, und alle Völker sehen seine Ehre.

Ich wünsche uns allen eine gute Woche in Gottes Segen,
Ulf von Kalckreuth